dok.festival – Caniba als Gewinnerfilm wurde präsentiert

von | 8 Mai 2018 | Aktuell, Blog, Kulturveranstalter

Zum dritten Mal wurde  der der ARRI AMIRA Award verliehen, der einzige Preis in Deutschland, der die Kameraarbeit bei Dokumentarfilmen würdigt. Die Jury bestand aus Pia Lenz, Ulrike Tortora und Prof. Tom Fährmann. Sie zeichneten Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor für CANIBA aus.Er geht sehr nah und über die Grenzen dessen, was man von Dokumentarfilmen erwartet. CANIBA portraitiert zwei Brüder, welche die Abgründe unserer Menschheit verdeutlichen.

Mit ungewöhnlicher Kameraführung wurde sehr sehr nah auf das Portrait der beiden Brüder eingegangen. Sehr intim im emotionalen als auch im darstellerischem Kontext. Die Gefühle und die Ausdrucksmimik vermittelten bildhaft totale Nahaufnahmen, teils in unscharfen Einstellungen, welche die Fantasie über das Geschehene bei mir weckten. Die Reportage lässt die Frage entstehen, wo die Grenzen einer Dokumentation für die Zuschauer und die Darsteller sind. Lange Kameraeinstellungen auf das Gesicht oder teilweise nur auf Teile des Gesichts gehen an die Grenzen dessen, was man von Dokumentationen kennt.  Langsam geht der Film von diesen sehr nahen und ruhigen Aufnahmen der beiden Brüder mit emotionalen Aspekten über in das Geschehen – dem Kannibalismus an einer Frau. Ein krasser Wechsel von den Langzeitportraits der beiden in Pornoszenen verwundert und spannt den Bogen zum Geschehenen. Über Comiczeichnungen beschreibt Issei Sagawa, was passiert war. Sein Bruder kommentiert teils mit lachen, teils mit Empörung, teils mit Ablehnung. Immer wieder wirft er ein, dass dies wohl kein Comicheft ist, dass man verkaufen kann. Mit historischen Szenen spannen Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor einen Bogen in die Kindheit der Beiden. Glückliche Bilder in schwarz weiß. Nur einmal taucht ein Hund im Zwinger auf. Im Hintergrund einer Kinderschaukel. Ob dies wohl die Botschaft war, die zu Beginn des Filmes geäussert wurde bzw. was mir davon im Gedächtnis blieb … Die Eltern und ihre Tiere wären schuld …  Offen bleibt, was zu ihren abnormalen Charakteren führte. Denn nicht nur der Kaniballismus von Issei Sagawa wird dokumentiert, sondern auch die sadomasistischen Neigungen des Bruders werden bildhaft dargestellt.

Der Film endet mit Szenen einer liebevollen Fürsorge. Eine schöne Frau, die sich in Bedienstetenkleidung aus den 20iger Jahren um einen der Brüder kümmert und ihn im Garten bei Sonnenschein spazieren fährt. Am Ende des Films gab es vom Publikum keinen Applaus – der Film muss erst mal verdaut werden. Was sich bei mir in mein Gedächtnis prägte und noch stundenlang präsent war, sind die Gesichter der beiden – insbesondere die totalen Nahaufnahmen und deren Ausdruck – ungeschminkt und real menschlich. Das weinende Auge, der kauende Mund und die leeren Blicke von Issei Sagawa sowie die Traurigkeit in den Augen seines Bruders und sein Stacheldraht. Was mir in der Dokumentation fehlte, war eine Betrachtung aus der Ferne, ein ganzheitlicher Blick auf die Personen und deren Umfeld. Bei soviel ungeschminkter Tiefe braucht der Verstand eine Weite – einen Abstand mit einem weiteren Fokus. Wo ist die Grenze dessen, was man Zuschauern zeigen kann?  Viele Fragen bleiben bei mir offen, sowohl zum Thema als auch zu den Beweggründen der Produzenten. Sicher regt diese Dokumentation dazu an, mehr über unsere Gesellschaft und die emotionale Vielfalt jedes Einzelnen nachzudenken bzw. sich darüber bewusst zu werden, welches Glück es ist, in einem geborgenen und gesunden Umfeld zu leben. Mich regte die Doku auch an, darüber nachzudenken, welche Themen und Menschen wir zu einseitig betrachten und wo ich vielleicht manchmal zu nah dran bin, um alles zu erfassen. „Jeder Mensch ist vieles“.  Der Film wird mich noch einige Tage beschäftigen, bevor ich alle Inhalte für mich erfassen und verarbeiten kann.
Birgit M. Widmann

Leider waren die Preisträger nicht persönlich bei der Preisverleihung dabei, da sie sich auf weiteren Filmaufnahmen im Ausland befinden.

Caniba - der Gewinnerfilm auf dem dok.fest Amira Award

Caniba – der Gewinnerfilm auf dem dok.fest Amira Award

Mensch oder Monster? Um diese Frage geht es in CANIBA eben nicht. Vielmehr erkunden Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor formal experimentell und jenseits von voyeuristischen Interessen menschliche Abgründe – oder das allgemein Menschliche in diesen Abgründen. Der Japaner Issei Sagawa hat im Jahr 1981 während seines Studiums in Paris eine Kommilitonin ermordet und Teile von ihr aufgegessen. Er wurde für verhandlungsunfähig erklärt, verbrachte zwei Jahre in einer französischen Klinik und wurde dann nach Japan ausgeliefert. Dort lebt er als freier Mann gemeinsam mit seinem Bruder; den Lebensunterhalt verdient er mit seinem Verbrechen: Er hat ein Buch geschrieben, ist in Pornos aufgetreten. In extremen Nahaufnahmen begegnen die Filmemacher den Brüdern, die ein seltsam symbiotisches Verhältnis pflegen. Julia Teichmann

Achtung! Der Film enthält explizite Gewaltdarstellung sowie Szenen, die Ihr sittliches Empfinden verletzen könnten.

Kamera: Verena Paravel, Lucien Castaing-Taylor. Produktion: Norte Productions S.E.L.. Produzent: xxx. Länge: 90 min. Vertrieb: Elle Driver

Lucien Castaing-TaylorLiverpool, Großbritannien, 1966

Lucien Castaing-Taylor studierte Philosophie, Theologie und Anthropologie. Castaing-Taylor ist Filmemacher, Anthropologe und Ethnologe. Er arbeitet als Professor für Kunst und Anthropologie in Harvard. Dort leitet er auch das Sensory Ethnography Lab.

 

Véréna Paravel – Neuchâtel, Schweiz, 1971

Véréna Paravel studierte Anthropologie an der École Nationale Supérieure des Mines in Paris und an der Universität von Toulouse. Seit 2008 arbeitet sie zusammen mit Lucien Castaing-Taylor am Sensory Ethnography Lab in Harvard.

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